Gewichtsdiskriminierung

Gewichtsdiskriminierung - body shaming
Astrid Kurbjuweit
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6 Minuten

Jeder Mensch der etwas mehr wiegt weiß aus leidvoller Erfahrung, dass Dicke diskriminiert werden. Andere übersehen das oft, erkennen es selbst dann nicht, wenn sie danebenstehen oder es selbst produzieren. Anders als die Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes, der Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung, die es natürlich auch alle immer noch gibt, ist die Diskriminierung aufgrund des Gewichtes oder des Körperumfanges gesellschaftlich anerkannt. Dicke werden in vielfältiger Form benachteiligt, zum Gegenstand von Witzen gemacht und von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Es scheint so zu sein, als ob Diskriminierung irgendwie sein müsste. Wenn es bei den einen nicht mehr geht, kommt die nächste Gruppe dran.

Zudem ist der Umgang mit Dicken immer noch von Vorurteilen geprägt. Jeder, der weniger wiegt als der Dicke, um den es gerade geht, weiß, wie es dazu gekommen ist, dass der so dick ist, weiß was er tun muss, um abzunehmen. Übergewichtige werden ständig mit ihrem Gewicht konfrontiert, als gäbe es keine anderen Themen.

Übergewichtige werden lächerlich gemacht, sie werden in den Medien vorgeführt, sie werden benachteiligt und auf das Thema Gewicht und Abnehmen reduziert. Sie kämpfen ständig mit alltäglichen Schwierigkeiten und Schikanen wie zu kleinen Stühlen und zu engen Umkleidekabinen. Gegen diese und andere Formen der Diskriminierung wendet sich die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung.

So bedenklich es erscheint, dass eine solche Gesellschaft überhaupt notwendig ist, so dringend ist deren Anliegen. Denn Übergewichtige sind schon längst keine Minderheit mehr. Allein die Tatsache, dass es so viele sind, macht klar, dass es sich nicht in jedem Fall um bedauerliche Einzelfälle handeln kann, die natürlich alle selbst schuld an ihrer Misere sind. Inwieweit die Gesellschaft, die heutige Lebensweise, alle möglichen unbeeinflussbaren Umstände und vielleicht sogar die Tatsache der Diskriminierung selbst zur Übergewichts-Epidemie beitragen, wird für gewöhnlich ausgeblendet.

Denn diskriminiert werden ja mehr oder weniger alle, die kein eindeutiges Untergewicht haben. Im Fernsehen ist vor allem bei den Frauen zu beobachten, dass fast alle zu dünn sind. So dass dem Fernsehzuschauer längst ein ganz normales, durchschnittliches Gewicht als zu dick vorkommen muss. Auf Fotos sind an allen Ecken untergewichtige Models zu sehen, und auch das reicht noch nicht aus, die Bilder werden bearbeitet, um die Darsteller noch dünner erscheinen zu lassen.

Was ist normal?

Da verwundert es nicht, dass die Modeindustrie, die ja inzwischen erkannt hat, dass die vielen Dicken auch was anziehen müssen, Mode für Normalgewichtige, in ganz durchschnittlichen Größen wie den Damengrößen 40 oder 42 als Plus-Size oder Mode für Mollige bewirbt. In der Folge verliert eine ganze Gesellschaft den Maßstab.

Dass Menschen, die tatsächlich deutlich runder sind, dadurch immer noch nichts zum Anziehen finden, ergibt sich zwar logisch, wird aber in Kauf genommen.

Im Ergebnis werden die, die tatsächlich rund sind, immer noch diskriminiert, während viele, die ein ganz durchschnittliches Gewicht und eine ganz unauffällige Figur haben, sich zu dick fühlen und meinen, das dringend ändern zu müssen. Vor allem Jugendliche fühlen sich fast durchgängig zu dick, obwohl es in der Altersgruppe nur wenige tatsächlich Übergewichtige gibt. Hungern und verrückte Diäten gehören heutzutage zum Alltag jedes Teenagers.

Während es offensichtlich Fakt ist, dass die Zahl der tatsächlich Dicken steigt, so steigt die Zahl derer, die glauben, sie wären zu dick, noch viel stärker an. Fast jede Frau und ganz viele Männer haben schon mal eine Diät gemacht, fast alle glauben, dass sie zumindest etwas weniger wiegen könnten. Der gesellschaftliche Druck zeigt Wirkung.

Allerdings nicht in der Weise, dass jetzt alle abnehmen. Das ist schließlich nicht so einfach, wie es an vielen Stellen dargestellt wird. Auch viele Ratgeber empfehlen Abnehmmethoden, von denen sie genau wissen, dass die wirken, schließlich haben sie selbst schon so und so oft damit abgenommen. Warum es immer wieder notwendig erscheint, bleibt offen. Auch Mediziner meinen oft, dass die Frage nach der Abnehmmethode damit beantwortet wäre, wenn sie ihren Patienten zum Abnehmen auffordern.

Abnehmen macht dick

Viel zu selten wird erwähnt, dass Abnehmen auch dick machen kann. Wer in jungen Jahren hungert, egal aus welchem Grund, verliert das Gefühl für die natürliche Regulation durch Hunger und Sattsein, kann später nicht mehr wirklich wissen, wieviel Essen er braucht. Das macht zumindest unter den Bedingungen des Überflusses, unter denen wir heute leben, dick. Viele Jugendliche, die heute glauben, zu dick zu sein, haben also gute Chancen, später tatsächlich dick zu werden.

Bekannt ist der Jo-Jo-Effekt, der nach Diäten und Abnehmversuchen dazu führt, dass das ganze verlorene Gewicht in kürzester Zeit wieder auf den Hüften erscheint, und oft noch ein paar zusätzliche Kilos dazu. Nach jeder Diät wiegen die zunehmend verzweifelten Abnehmwilligen mehr statt weniger. Das wirft durchaus die Frage auf, ob man tatsächlich unbedingt abnehmen muss. Denn außer Schuldzuweisungen gibt es für gewöhnlich keine Ratschläge für die vom JoJo-Effekt Getroffenen. Dabei lässt auch dessen Häufigkeit darauf schließen, dass er nichts mit dem persönlichen Versagen der Betroffenen zu tun hat, sondern ein Fehler im System ist. Man sollte sich also gut überlegen, ob man wirklich abnehmen will. Denn das kann dick machen.

Müssen Dicke abnehmen?

Es scheint ein gesellschaftlicher Konsens zu herrschen, dass Dicke abnehmen müssen. Streit gibt es nur darüber, auf welche Weise man sie dazu zwingen kann, denn dass sie uneinsichtig sind, zeigt sich ja daran, dass sie immer noch zuviel wiegen. Da wird erwogen, sie fürs Dicksein zu bestrafen, mit höheren Krankenkassenbeiträgen oder ähnlichem, oder, weil das Protest auslöst, sie mit Geld fürs Abnehmen zu bezahlen. Es wird ihnen gedroht, mit den gesundheitlichen Folgen des Übergewichtes. Auch wenn es immer schwerer wird, diese Behauptungen aufrecht zu erhalten. Um Fakten scheint es da nur am Rande zu gehen.

Wer abnehmen möchte, soll das natürlich tun dürfen. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass die meisten Übergewichtigen (und viele Normalgewichtige) abnehmen wollen, es aber nicht schaffen. Es wird wenig nützen, diese Menschen zum Abnehmen aufzufordern. Was ihnen fehlt, sind funktionierende Abnehmmethoden. Und da sollten wir ehrlich sein, wir wissen nicht, was wirklich funktioniert. Eine für alle funktionierende Lösung scheint es jedenfalls nicht zu geben. Zu vielfältig sind die Ursachen des Übergewichtes, zu verschieden die Menschen.

Wer abnehmen möchte, sollte sich also fragen, ob er wirklich abnehmen möchte, oder ob er nur dem gesellschaftlichen Druck nachgibt. Und er sollte sich darüber klar sein, dass es ein unter Umständen mühsamer Weg sein wird, überhaupt erstmal eine bei einem selbst funktionierende Abnehmmethode zu finden. Wer gar nicht zu viel wiegt, sondern nur die Diskrepanz zwischen seinem eigenen durchschnittlichen Äußeren und dem herrschenden Schönheitsideal beklagt, sollte nicht abnehmen, sondern dieses Schönheitsideal infrage stellen. Denn das existiert nur, weil wir alle es anerkennen.

Können Dicke abnehmen?

Angesichts der verbreiteten Misserfolge beim Abnehmen stellt sich natürlich schon die Frage, ob man überhaupt abnehmen kann. Dass diese Frage überhaupt gestellt werden muss, ist natürlich ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Diskriminierung der Dicken am Problem vorbeigeht und nur eine bequeme Distanzierung der Nicht- oder nicht so stark Betroffenen ist.

Gewarnt werden muss jedenfalls vor Abkürzungen. Wer abnehmen will, oder dies eingeredet oder aufgedrückt bekommt, aber überzeugt ist, dass er nicht abnehmen kann, hat ja erstmal ein Problem. Eine ganze Industrie verdient hier gut an vermeintlichen Auswegen. Wundermittel der unterschiedlichsten Arten bewirken im besten Fall gar nichts, im schlimmsten Fall ruinieren sie die Gesundheit der Betroffenen. Auch chirurgische Methoden, die scheinbar seriös sind, schließlich sind die Anbieter doch studierte Ärzte, werden selten objektiv dargestellt. Im Unterschied zu den Wundermitteln wirken sie normalerweise, allerdings sind sie alles andere als nebenwirkungsfrei. Wenn nur die Vorteile dargestellt werden, erscheint die Entscheidung so eindeutig, bei Gegenüberstellung von Vor- und Nachteilen sieht das im Allgemeinen schon ganz anders aus. Auf jeden Fall sollte man nicht nur den operierenden Arzt um Rat fragen. Der verdient schließlich an den Operationen, nicht an der Beratung. Und die Nebenwirkungen kann einem niemand abnehmen, die muss man selbst aushalten. Egal, wie schön die Versprechungen vorher waren.

Abnehmen ist freiwillig

Wer dick ist, steht unter Druck. Von allen Seiten kommen die mehr oder minder aggressiven Forderungen, doch endlich etwas zu tun. Da ist es schwer, herauszufinden, was man selbst eigentlich will.

Eigentlich sollte klar sein, dass jeder Mensch selbst entscheiden kann und darf, was er tut. Wer so bleiben möchte, wie er ist, hat jedes Recht der Welt dazu. Egal ob er dick oder dünn, oder sonstwas ist. Auch wenn ihm dieses Recht von vielen Seiten streitig gemacht wird. Am Selbstbewusstsein zu arbeiten, statt am Gewicht, ist also in jedem Fall gut. Sich trotz der Schwierigkeiten klar darüber zu werden, was man selbst eigentlich will. Sich gegen Diskriminierung zu wehren, sein Recht auf Selbstbestimmung einzufordern, ist ein Weg. Denn man sollte sich darüber klar sein, abnehmen wird nur dann funktionieren, wenn man es wirklich will. Nicht dann, wenn man dem Druck nachgibt, meint, den Forderungen entsprechen zu müssen. Der Weg des geringsten Widerstandes führt nicht zur schlanken Linie, sondern nur zu Frustration. Die oft noch dicker macht. Das sollten auch die wissen, die immer von anderen fordern, dass die abnehmen sollten.

Wer dann feststellt, dass er doch abnehmen möchte, der sollte sich über einen Unterschied klar werden. Abnehmen ist etwas, was man tun muss. Schlank sein ist das Ziel, abnehmen ist der Weg dorthin. Niemand wacht eines Morgens auf und ist schlank. Es ist Arbeit, aber man kann es schaffen.

Was nicht bedeutet, dass man es schaffen muss. Es ist tatsächlich eine Entscheidung, die so oder so ausfallen kann. Und niemand hat das Recht, diese Entscheidung zu kritisieren.

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Beitragsbild: Nicoleta Ionescu/Shutterstock