Dick sein und sich dick fühlen haben in vielen Fällen nichts miteinander zu tun. Wer sich dick fühlt, fühlt sich oft auch innerlich zerrissen. Denn die meisten wissen, dass sie objektiv nicht wirklich dick sind. Am subjektiven Gefühl ändert das aber nichts.
Inhalt
- Sich dick fühlen in der öffentlichen Wahrnehmung
- Was Abnehmforderungen anrichten können
- Übergewicht führt zu frühem Tod, oder?
- Sind Dicke öfter krank? Warum auch die, die sich dick fühlen, Angst for dem frühen Tod haben
- Es ist gesund, ein bisschen mehr zu wiegen
- Das Gewicht mit der höchsten Lebenserwartung
- Sich dick zu fühlen, wird vielen eingeredet, von Modeindustrie und Verfechtern von Schönheitsidealen
- Die unzufriedenen Dünnen
- Wohlfühlen mit etwas mehr Gewicht: es lohnt sich, sich einfach mal gut zu finden
- Und wer muss jetzt abnehmen?
Sich dick fühlen in der öffentlichen Wahrnehmung
In der Diskussion um Übergewicht und Abnehmen geht es meistens um die, die eindeutig zu viel wiegen. Um die, die abnehmen sollen. Warum auch immer sich die halbe Welt berechtigt fühlt, ihnen zu sagen, was sie tun und lassen sollen.
Die Betroffenen sind mehrheitlich nicht so begeistert. Was kein Wunder ist. Wer lässt sich schon gerne bevormunden?
Natürlich gibt es eindeutig oder auch stark Übergewichtige, die unabhängig von aller Bevormundung beschließen abzunehmen und die Sache dann eigenverantwortlich in die Hand nehmen. Meistens mit eindrucksvollem Ergebnis.
Daneben gibt es die, die sich irgendwann überreden lassen. Die dann halbherzig, nur damit die nervenden Mitmenschen oder auch der Hausarzt Ruhe geben, irgendein Abnehmprogramm starten, das ihnen jemand empfohlen oder nahegelegt hat.
Wenig überraschend ist die Erfolgsquote in dieser Gruppe nicht so besonders eindrucksvoll.
Und dann gibt es noch die, die nicht wirklich zu dick sind, die nur meinen, sie würden dem Schönheitsideal nicht so ganz vollständig entsprechen.
Die vermeintliche oder tatsächliche Problemzonen beklagen, die vor allem unter ihrer Figur oder auch unter der Zahl auf der Waage oder ihrer Kleidergröße leiden.
Das subjektive Gefühl, dick zu sein, ist dabei ganz real. Es ist für die Betroffenen ein großes Problem. Denn sie fühlen sich gemeint, wenn überall zum Abnehmen aufgefordert wird.
Was Abnehmforderungen anrichten können
Während sich alle Kampagnen zur Förderung einer gesunden Lebensweise mit entsprechender Ernährung und Bewegung vor allem an die erste Gruppe wenden, fühlt sich vor allem die dritte Gruppe angesprochen.
Die Diskrepanz spiegelt ein Missverständnis. Allen Kampagnen, allen Forderungen und inzwischen auch politischen Überlegungen liegt die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung zugrunde.
Es werden Steuern auf kalorienreiche Lebensmittel in Erwägung gezogen, es wird überlegt, dicken Menschen höhere Krankenkassenbeiträge abzuverlangen, es wird die Möglichkeit diskutiert, Dicke fürs Abnehmen zu bezahlen.
Während die Menschen sich um ihr Aussehen, um ihre Akzeptanz in der Öffentlichkeit, um Attraktivität und ihre Möglichkeiten beim Kleiderkauf sorgen.
Dick sein und sich dick fühlen sind offenbar zwei völlig unterschiedliche Dinge, die auch ganz unterschiedliche Menschen betreffen.
Da ist es kein Wunder, dass die Diskussion so oft scheitert, dass so oft der Eindruck entsteht, dass trotz kluger Argumente das Thema verfehlt wird.
Übergewicht führt zu frühem Tod, oder?
So wurde lange Zeit damit argumentiert, dass Übergewicht der Gesundheit schaden würde, dass es die Lebenserwartung senken würde.
Inzwischen weiß man, dass das so nicht stimmt. Dicke sind nicht pauschal öfter krank, sie verursachen auch keine höheren Kosten, sehr zum Ärger vieler Besserwisser.
Sind Dicke öfter krank? Warum auch die, die sich dick fühlen, Angst vor dem frühen Tod haben
Während es viele logische Argumente dafür gibt, dass Dicke eigentlich eher krank werden sollten, dass sie die kürzere Lebenserwartung haben sollten, sprechen die Ergebnisse empirischer Untersuchungen eine andere Sprache.
So ist heute bekannt, dass Übergewicht die Überlebensrate bei einer ganzen Reihe von schweren Erkrankungen signifikant erhöht. Dieses Phänomen ist als das Adipositas-Paradoxon bekannt geworden.
Paradox ist daran eigentlich nur, dass die Ergebnisse dem widersprechen, was als allgemein bekannte Tatsachen gehandelt wurde, obwohl es dafür gar keine Belege gab oder gibt.
Inzwischen gibt es also wissenschaftliche Untersuchungen, deren Ergebnisse eindeutig in dieselbe Richtung weisen:
Außer in ganz jungen Jahren ist ein etwas höheres Gewicht eher ein Vorteil denn ein Nachteil. Jedenfalls in gesundheitlicher Hinsicht. Je älter man wird, umso weniger nachteilig ist auch sehr starkes Übergewicht.
Es ist gesund, ein bisschen mehr zu wiegen
Eine erhöhte Sterblichkeit lässt sich erst jenseits eines BMI von 40 zeigen, und auch da ist es nicht ganz so eindeutig, wie die Befürworter der schlanken Linie es gerne hätten.
Trotzdem stimmt es natürlich, dass Übergewicht, vor allem starkes Übergewicht, dazu führt, dass manche Krankheiten häufiger auftreten.
Dabei handelt es sich aber meistens um Krankheiten, an denen man nicht stirbt, wie Arthrose oder andere Krankheiten des Bewegungsapparates. Und auch wenn zum Beispiel Diabetes Typ 2 bei Übergewichtigen häufiger ist, so haben sie doch die besseren Chancen, mit ihrer Krankheit alt zu werden als Dünne.
Entsprechende Ergebnisse gibt es für eine ganze Reihe von häufigen (Zivilisations-) Krankheiten.
Die häufige Forderung, dass die Übergewichtigen abnehmen sollen, trifft also nicht den Kern des Problems. Besser wäre, zu fordern, dass Kinder gar nicht erst dick werden sollten.
Denn Übergewicht in der Kindheit hat negative Folgen. Später ist Abnehmen häufig schädlicher als Übergewicht. Das gilt vor allem für wiederholte, erfolglose Abnehmversuche mit ständig schwankendem Gewicht.
Das Gewicht mit der höchsten Lebenserwartung
Das Gewicht mit der höchsten Lebenserwartung entspricht etwa einem BMI von 27, was nach allen Normen im Bereich des Übergewichtes liegt, was dazu noch meilenweit von jedem Schönheitsideal entfernt ist.
Frauen mit einem BMI von 27 sind eine Mehrheit, sie tragen Kleidergröße 42 oder 44, die Modeindustrie interessiert sich höchstens am Rande für sie.
Und wenn doch, dann unter Bezeichnungen wie Mode für Mollige oder auch Mode für starke Frauen, Plus Size, Übergrößen und anderen Bezeichnungen, die nahelegen, dass es sich dabei um alles andere als völlig normale Größen handelt.
In jeder Frauenzeitschrift kann man nachlesen, dass es bei einem solchen Gewicht nur eine mögliche Handlungsoption gibt, nämlich sofort und ganz viel abzunehmen. Es scheint völlig klar zu sein, dass man mit einem solchen Gewicht nicht attraktiv, nicht schön sein kann.
Mit einem BMI von 27 lebt man also auf der einen Seite offensichtlich gesund, gehört einer Mehrheit an, und trotzdem steht man in der öffentlichen Sicht außerhalb der Normalität.
Ganz viele Menschen befinden sich in dieser Gewichtsklasse, es handelt sich um alles andere als eine Minderheit, und trotzdem wird ihnen suggeriert, sie wären nicht normal, nicht richtig, nicht erwünscht.
Sich dick zu fühlen, wird vielen eingeredet, von Modeindustrie und Verfechtern von Schönheitsidealen
So ist es kein Wunder, dass Menschen dieser Gewichtsklasse mit die eifrigsten Anwender von Diäten und anderen Abnehmprogrammen sind. Der Abnehmerfolg ist dabei meistens bescheiden. Ganz viele nehmen immer wieder ab, um dann doch wieder zuzunehmen. Ob das sinnvoll ist, sei dahingestellt.
Die unzufriedenen Dünnen sind auch nicht selbst schuld
Aber die Gewichtsproblematik betrifft keineswegs nur Menschen, die zumindest nach irgendeinem Kriterium zu viel wiegen. Auch ganz viele Dünne fühlen sich zu dick, glauben, sie müssten unbedingt abnehmen.
Der Grund dafür liegt häufig im Vergleich mit dem Schönheitsideal. Das heute vorherrschende Schönheitsideal verlangt vor allem von Frauen ein ungesund niedriges Körpergewicht.
Das von vielen mit aller Energie angestrebt wird. Dass Untergewicht der Gesundheit mehr schadet als Übergewicht, dass Untergewicht sogar tödlich sein kann, wird verdrängt, ist auch in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent.
Solange ein immer noch niedrigeres Gewicht dazu führt, dass man dem Schönheitsideal immer noch näher kommt, solange zählen die gesundheitlichen Argumente kaum oder gar nicht.
Dünne werden als attraktiver und erfolgreicher wahrgenommen. Das reicht aus, um das Dünnsein anzustreben, um der Norm entsprechen zu wollen.
Um Gewichtsdiskriminierung vermeiden zu wollen. Die leider eine Realität ist.
Ein großer Teil der Diskussion dreht sich dabei um die vermeintlichen oder tatsächlichen Problemzonen, um Bereiche des Körpers, die nicht der Norm oder dem Schönheitsideal entsprechen.
Auch ein völlig normaler, durchschnittlicher Körperbau wird sehr häufig als eine Ansammlung von Problemzonen angesehen. Da ist der Bauch nicht flach genug, die Hüften sind zu breit, die Beine zu kurz, die Oberschenkel zu dick, die Waden zu ungeformt, die Oberarme zeigen einen leichten Fettansatz, der Busen ist zu klein oder zu groß, der Po nicht richtig geformt.
Die Möglichkeiten, mit seinem Körper unzufrieden zu sein, sind geradezu unendlich. Und fast immer wird Abnehmen als Lösung angenommen. Oder zumindest in Erwägung gezogen.
Dabei wird häufig ein Gewicht als Wohlfühlgewicht angenommen, das deutlich unter dem jeweils aktuellen Gewicht liegt. Wer sich nicht wohlfühlt, nimmt an, dass das Gewicht schuld daran ist.
Weniger Gewicht soll zu mehr Wohlbefinden führen. Meistens tritt das nicht ein, statt mehr Wohlbefinden gibt es nur mehr Stress, mehr Frust und mehr Misserfolge. Was dann zu der irrigen Annahme führt, dass noch weniger Gewicht die Lösung sein wird.
Wohlfühlen mit (etwas) mehr Gewicht: es lohnt sich, sich einfach mal gut zu finden
Stattdessen einfach mal auf den Abnehmstress zu verzichten und sich schon deshalb wohler zu fühlen, wird im Allgemeinen nicht in Erwägung gezogen. Dabei kann sich das lohnen.
Denn wer trotz niedrigem Körpergewicht meint, nicht dünn genug zu sein oder nicht die richtigen Körperformen zu haben, der ist oft unsportlich.
Dagegen helfen Sport und Bewegung mehr als ein noch niedrigeres Gewicht. Abnehmen führt fast immer auch zum Verlust von Muskelmasse, so dass das unsportliche Aussehen eher noch verstärkt wird.
Besser ist, ein bisschen mehr Gewicht zu akzeptieren und die Energie in Sport und Bewegung zu stecken, statt in Diätprogramme und Abnehmversuche.
Wer trotz niedrigem Körpergewicht mit sich und seinem Körper unzufrieden ist, unterliegt auch oft einem Trugschluss.
Unzufriedenheit kann viele Ursachen haben. Nur, weil man beim Blick in den Spiegel eine oder mehrere Problemzonen entdeckt, heißt das noch nicht, dass diese auch die Ursache der Unzufriedenheit sind. Es heißt noch nicht einmal, dass sie wirklich existieren.
Und wer muss jetzt abnehmen?
Ein normgerechtes, möglichst niedriges Gewicht wird in der Gesellschaft hoch bewertet. Entsprechend glauben viele, dass sie abnehmen müssen, sobald ihr Gewicht von der Norm abweicht.
Tatsache ist, dass man abnehmen kann, wenn man zuviel wiegt. Tatsache ist auch, dass man nicht abnehmen sollte, wenn man gar nicht zuviel wiegt. Aber auch wer viel wiegt, muss nicht abnehmen, sondern kann oder darf abnehmen, wenn er oder sie das möchte.
Nicht jeder, der sich dick fühlt, sollte auch abnehmen. Wer sich trotz niedrigem Gewicht zu dick fühlt, sollte die Lösung seines Problems woanders suchen.
Wer ein hohes Gewicht hat und abnehmen möchte, der soll das tun. Wer nicht abnehmen möchte, der braucht es nicht zu tun. Aus zwei Gründen.
Zum einen ist unklar, ob es wirklich einen Vorteil bringt. Es kommt einfach auf die Sichtweise an, darauf, welche Aspekte man als wichtig ansieht.
Zum anderen ist Abnehmen nur dann erfolgreich, wenn man sich wirklich mit aller Energie damit beschäftigt, wenn man es wirklich will.
Fazit: Niemand muss abnehmen. Viele können oder dürfen abnehmen, einige sollten es besser nicht tun. Wer sich trotz niedrigem Gewicht dick fühlt, sollte besser an seinem Körperbild arbeiten, als abzunehmen.
Sehr schöner und ausführlicher Artikel, der den Nagel genau auf den Kopf trifft! Ich kann dir nur zustimmen. Der ein oder andere übertreibt (leider) gerne immer, bei anderen ist genau das Gegenteil der Fall. Ein gesundes Mittelmaß sollte immer das Ziel sein und man sollte sich nie zu sehr auf etwas „versteifen“ !
Liebste Grüße
Genauso ist es leider. Die, die ständig abnehmen wollen, haben meistens ohnehin ein annehmbares Gewicht, aber die, für die es wirklich nötig wäre, interessieren sich nicht die Bohne dafür.
Sehr schöner Beitrag. Ich gehörte irgendwie zu allen Gruppen. Ich hatte gesundheitliche Probleme, hatte Minderwertigkeitskomplexe, weil ich einen Schönheitsideal entsprechen wollte, ich war aber auch schon untergewichtig, weil ich mit Disziplin diesem Schöneitsideal entsprochen habe. Ich habe mich ständig gefragt:“Wie kann ich abnehmen?“ Bis ich irgendwann gemerkt habe, dass ich nicht fragen sollte, wie kann ich abnehmen, sondern: “ Wie werde ich meinen Ballast los?“ Wie mache ich mich frei von allem Erwartungsdruck?
Ich habe angefangen bewusst zu leben und mich bewusst zu ernähren. Zu Anfang habe ich noch versucht abzunehmen und gegen men Gewicht zu kämpfen. Doch dann habe ich angefangen FÜR eine bewusste Lebensführung zu kämpfen und mit dem Druck und Stress gingen auch die Kilos.
Also für Alle. die sich frage:“Wie kann ich abnehmen?“ – Fangt an bewusst zu leben!
LG
Manuel
Super Artikel, stimmt genau 😉
Darf ich den Artikel bei facebook in meiner Anti-Diät-Gruppe teilen? Die ist nicht öffentlich.
Hallo Carla,
natürlich darfst du den Artikel teilen.
Danke schön 🙂
Hallo Astrid,
Danke für diesen schönen, ausführlichen Artikel! Ich habe einiges davon noch nicht gewusst, wie zum Beispiel das Adipositas-Paradoxon. Ganz schön interessante Thematik, schade, dass das Thema nicht allgemein bekannt ist. Würde eventuell vielen Menschen helfen, von ihrem hohen Ross runterzukommen 😀
Ich habe auch schon die Erfahrung gemacht, dass sich Normalgewichtige Menschen mit absolut normalen, schönen Körpern oft zu dick fühlen und das finde ich schade. Ich glaube auch, dass dieser Druck vor allem durch soziale Medien erhöht wird. Leider kann man das schwer regulieren und so rasseln gerade viele junge Mädchen in eine Essstörung nach der anderen rein. Ich finde, die Message sollte sich verändern. Selbstakzeptanz ist schließlich um einiges wichtiger, als ein möglichst niedriger BMI. Und das hast du toll auf den Punkt gebracht.
Liebe Grüße,
Julia
Zunächst einmal danke für diesen ausführlichen tollen Artikel. Sehr interessanter Text. Sehr viele fühlen sich nicht wohl deswegen ist der Text so toll.